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Standuhr zu Dorfgeschichten Teil I

Dorfgeschichten Teil 1

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Dorfgeschichte (beginnt 1880 – wird sie 2026 enden?)

von Gabriela-Alexandra Scharff und Mary Winkens

Zeilen zum aktuellen Wetter und zur Heimat von Gabriela-Alexandra Scharff

Zum aktuellen Wetter

Das Wetter so düster und so wild.

Verwüstest – was uns wertvoll scheint.

Willst  du uns beweisen, dass wir nur deine Knechte sind?

Wassermassen fluten Stadt und Feld, manch einer ist verloren.

Wo hier die Wassermassen toben, brennt anderswo die Welt.

Geliebte Welt, hast du dich gegen uns verschworen?

Was gerät da aus den Fugen, hör ich die Dämonen rufen?

Sollten wir dich doch mehr ehren, die, die uns doch das Leben schenkt.

Heimat

Zu Hause ist der Ort, wo du immer herzlich willkommen bist.

Hier ist mir alles so vertraut.

Der Duft der Felder, der zarte Vogelgesang.

Wird der süßliche Geruch des Raps für mich an anderer Stelle, der gleiche sein?

Das Glück zieht ein Beim Anblick der Schwalben, die kehren heim.

Hier, wo mich jeder kennt, mit freundlichem Lächeln mich empfängt.

In meiner Heimat Wo jeder meine Geschichte und Sorgen kennt.

Hier, wo man einander hilft und beschenkt.

Hier, wo meine Vorfahren verweilten

Wo ich aufgewachsen bin.

Wo ich meine erste Liebe fand und meine Kinder sind geboren.

Stets weckte mich der individuelle Glockenklang.

Er war so lieblich schön.

Was wird nun werden, bleibt nur der Duft an die Erinnerung?

Auch wenn wir bangen, die Hoffnung nicht vergeht.

Einen besonderen Glockenklang können wir heute noch von der Heilig-Kreuz-Kirche in Keyenberg hören. Sie wurde das erste Mal im Jahr 893 erwähnt und ist heute als Denkmal Nr. 178 in der Liste der Denkmäler eingetragen.

Ein weiteres Baudenkmal ist die Kapelle St. Joseph in Berverath. Ein Anwohner, Wilhelm Heinrich Joseph Jansen ließ sie zwischen 1909 und 1912 auf seiner Parzelle errichten.

Aktuell ist geplant die Bauwerke nach 2026 abzureißen, da sie dem Tagebau Garzweiler weichen sollen, wie die gesamten Orte auch.

Nun zur Dorfgeschichte und damit unweigerlich zu Tante Claire. Mit Tante Claire, steht und fällt das Leben in dem kleinen Dorf im Rheinland. Sie hat nicht nur die Menschen zu ihrer Lebenszeit geprägt. Vielmehr führt sie nach ihrem Tode weiterhin Regie. Und zwar nicht nur in Sachen Menschen oder Dorfleben. Nein, sie wacht über ihrer Meinung nach völlig unnötigen Änderungen in ihrem ehemaligen Lebensbereich. Jede Generation, die nach ihr auf diesem Hof lebt, erhält ausführliche Instruktionen. Und glaubt uns, Tante Claire hat äußerst detaillierte Vorstellungen, wie das Leben im 21. Jahrhundert auszusehen hat.

Noch heute hört die antike Standuhr in der Diele in tatsächlich jeder Neumondnacht auf, zu schlagen. Und derjenige, der in der Stille der Nacht aufmerksam lauscht, meint, anstelle des rhythmischen Tickens des Uhrwerks leises Geraune und Gewisper zu hören. Fast könnte man meinen, einen wehleidigen Gesang zu vernehmen. Ob das so stimmt? Sind das die Rufe der Vorfahren? Das wissen wir nicht, aber erzählen möchten wir euch von einer ganz normalen, gutbürgerlichen Familie, wäre da nicht die sonderbare Tante Claire.

Die Geschichte beginnt im 19. Jahrhundert mitten im heutigen rheinischen Revier. In einer kleinen, verwunschenen, recht verschlafenen Gegend, siedelten sich damals einige Bauern an. Mitten in einer Rodung entstand eine Ansammlung von mehr oder weniger stattlichen Höfen. Die Familien untereinander verstanden sich, halfen sich gegenseitig aus und bestellten auch die Felder gelegentlich gemeinsam. Zwei Kriege konnte dieser kleine Ort nahezu unbeschadet überstehen. Da wo Verluste von Ehemännern oder Söhnen zu beklagen waren, half die Nachbarschaft den Hinterbliebenen wieder auf die Füße zu kommen. Es wurde Weizen, Gerste, Buchweizen, Hafer und Ackerspörgel (eine alte Futterpflanze für Kühe) angebaut. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts kamen sehr viele Faktoren zusammen, die eine ertragreiche Bewirtschaftung dieses Gehöfts erschwerten. Landwirtschaft und Heimarbeit prägten im 20. Jahrhundert das Berufsleben in dieser Gegend. Die Zukunft lag damals bei den jungen Menschen noch daheim. Heimarbeit war üblich, auch Kinderarbeit in der familiären Landwirtschaft. Zu den Hausnebengewerben gehörten, bedingt durch den Flachsanbau, die Heimspinnerei und Weberei. Nicht nur schlechte Erntejahre, sondern vor allem die frühindustriellen Anfänge veränderten die bis dato ausgeprägten Familienbetriebe.

In einer Familie des Dorfes, die immerhin die stattliche Zahl von 9 Kindern aufweisen konnte, war scheinbar alles in bester Ordnung. Die Kinder waren um die Jahrhundertwende geboren, alle Jungen heil aus beiden Weltkriegen gekommen und die Mädchen sittsam und fleißig. Nach und nach wurden die Kinder flügge und gründeten ihre eigenen Familien, nur drei Geschwister waren noch zu haben. Als in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Vater unerwartet an einer schweren Krankheit verstarb, waren ausnahmslos alle Kinder zur Stelle, um der Mutter beizustehen. Die Mutter wurde stets in Ehren gehalten. Sie war bis zu ihrem Tod sozusagen die Matriarchin der durch Kinder, Enkel und Urenkel sehr großen Familie. Sie starb im stattlichen Alter von 95 Jahren friedlich auf ihrem Hof. Alle Kinder unterstützten sie bis zu ihrem Ende und kurz vor ihrem Tod waren auch die Enkelkinder und Urenkel bei ihr.

Dann stellte sich die Frage, was mit Haus und Hof geschehen soll. Verkaufen war keine Option, denn bereits vor dem Tod der Mutter entschied die resolute Claire, den Hof weiterzuführen. Von nun an lebten Johanna, Claire und Gustav auf dem Hof ihrer Vorfahren, hatten ein Auskommen mit ihrem Einkommen und lebten – mhh, mehr oder weniger einträchtig zusammen.

Claire war eine fortschrittliche junge Frau, fehlende Schönheit machte sie durch einen offenen Geist wett. Der Hof mitsamt seinen tierischen Bewohnern, wurde stets gepflegt und gehegt.

Claire war bekannt wie ein bunter Hund. Hinter ihrem Rücken nannte man sie den „Dorffeldwebel“ oder auch „Fräulein Rottenmeier“. Auf ihrem Hof, nein, im ganzen Dorf kam keiner, wirklich KEINER an ihr vorbei. Claire beäugte alles und jeden mit Argwohn. Dabei zog sie hin und wieder die Augenbraue nach oben und hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Widerworte akzeptierte sie nicht, denn ihrer Weitsicht der Dinge war nichts entgegenzusetzen. Schluss, Aus, Punkt, Basta!

Jeden Sonntagmorgen – zwei Kilometer Fußmarsch, bei Wind und Wetter, Sommer wie Winter, zur Kirche nach Keyenberg, das kleine Gebetbuch in der Hand und züchtig gekleidet. Ausreden gab es nicht. Der Herr gibt und der Herr nimmt – in Dankbarkeit AMEN!

Außerdem war es dieses Sehen und Gesehenwerden. Zügigen Schrittes, wie ein Wiesel eilte Claire voran, um als erste das Eingangsportal des ehrfürchtigen Gotteshauses zu erreichen. Johanna hechelte mühsam hinter ihr her und ertrug die Geruchsexplosion von Claires fürchterlichem Gemisch aus dem Parfüm von 4711 und Toska. Ob diese explosive Parfümmischung dazu diente, den Geruch des «Herzmittels» zu überdecken? Der Pastor, Johanna und auch Claire achteten auf ihre Gesundheit. Um eventuellen Herzbeschwerden vorzubeugen, gab es das Herzmittel. Der Begriff «Alkohol oder Likörchen» durfte in Claires Beisein niemals erwähnt werden. Denn das war Teufelszeug, dazu gemacht, die Menschen zu verderben. Durch die natürlichen Zutaten, beschlossen der Pastor und Claire allerdings, die in Alkohol gelösten Kräuter nicht als Genussmittel zu bezeichnen, sondern schlicht und ergreifend nannten sie es «unser Herzmittel». Das das Zeug von Johanna und Claire heimlich aufgesetzt wurde, wen interessierte es?

Für die Interessierten hier das Originalrezept:

½ Pfund frische Weißdornfrüchte

1 Handvoll schwarze Holunderbeeren

2 Handvoll Melisse frische Blätter und Blüten

2 TL Herzgespann ( sehr bitter)

1 Zimtstange

7 Nelken

100 g Honig

¾ l Doppelkorn

Zurück zu Claire:

Manch eins der Kinder versteckte sich hinter dem Rock der Mutter, wenn Claire im Anmarsch war. Jeder einzelne Dorfbewohner wurde von oben bis unten gemustert, ihrem strengen, durchdringenden Blick entging nichts. Denn gefiel ihr etwas nicht, gab sie dies lautstark preis, um die „Sündigen“ auf den richtigen Weg zu bringen.

Von:

„Über Geschmack lässt sich streiten“

„Bügeleisen kaputt?“ (Wenn die Bügelfalte nicht akkurat genug war)

„Hattet ihr das Wasser abgestellt?“ (Bei kleinen Schmutzflecken)

Bis hin zu den eher sehr sparsamen Äußerungen

„Oh, das ist aber ein feines Stöffchen“

war wirklich alles dabei.

Manchmal gab es ein wohltuendes Nicken oder eben ein abwertendes Kopfschütteln. Jedoch begutachtete sie die Kleidung nicht nur mit ihren Augen, nein, sie ließ jedes Kleid oder Hemd ohne Hemmungen durch ihre Finger gleiten. Selbst bei den Männern fasste die sonst so zurückhaltende Claire ungeniert den Hosenstoff probeweise an.

Claire ließ sich für die Sonn- und Feiertage vom Schneider ihre Kleider nähen. Sozusagen Ware von der Stange kaufen – wer macht denn so was?

Das wichtigste Wahrzeichen von Claire war allerdings ihr rosenbesticktes Handtäschchen. In der Kirche war es, neben dem Gebetsbuch, ihr treuester Begleiter. Provokant öffnete sie in der Kirche mit einem lautstarken Klick-Klack ihr Täschchen, sobald der Klingelbeutel im Anmarsch war. Lautstark warf sie dann die Groschen hinein, um jeden Gottesfürchtigen mitzuteilen, was der heutige Mindestbetrag sei. So mancher Sünder steckte in Hoffnung eines wohlwollenden Blicks noch die eine oder andere Münze in die Kollekte.

Sonntagskleidung wurde von Claire auch nur sonn- und feiertags getragen. So liefen sie und ihre Schwester während der Woche in geflickten, ausgeblichenen, abgetragenen Sachen herum. Für Fremde wirkten sie ärmlich. Einmal kam ein Händler, der sich im Ort verirrt hatte, zu ihr und wollte ihr ein paar Almosen spenden. Erbost jagte Claire ihn mit dem Besen von ihrem Hof.

Nach ihrem Tod fand man heimlich gestapelte Kisten mit der teuersten Unterwäsche und Strümpfen, die niemals getragen wurden. Alle noch original verpackt und fein säuberlich sortiert. Bereit, an besonderen Tagen getragen zu werden. Sie war schon etwas seltsam, die gute Claire.

Genauso heimlich gönnten die beiden Schwestern sich das eine oder andere Gläschen Herzmittel. Es war schließlich kein gewöhnlicher Alkohol, sondern eher ein göttlicher Fusel. Höchstpersönlich vom Diener Gottes zur Herzstärkung abgesegnet. Gustav hörte die Zwei dann albern kichern und über die doch so tristen Dorfwitwen lästern.

Noch eine Eigenart von Claire war, dass sie in jeder Neumondnacht kurz vor Mitternacht in ihren ausgelatschten Schluppen nach unten schlich. Sie schob ihren Sessel leise vor die alte Standuhr. Nur zur Beruhigung, trank sie ein weiteres klitzekleines Gläschen Herzmittel  und wartete, ob die Ahnen ihr etwas zuraunen würden. Dieses Ritual ließ sie sich niemals entgehen.

Trotz ihres konservativen Lebensstils, der kaum Neuerungen zuließ, traf Claire eine unglaubliche Entscheidung. Sie machte den Führerschein und drang darauf, ein Familienauto anzuschaffen. Das Auto war diese geheime Sehnsucht nach dem Leben außerhalb des Dorfs. Claire war einerseits in christlichen Konventionen verfangen, andererseits wusste sie, es gab im Leben noch sooo viel mehr. Für diese Zeit war es mehr als ungewöhnlich, dass Dorfbewohner das Wort Urlaub auch nur in den Mund nahmen. Claire interessierte das nicht, sie wollte etwas von der Welt sehen. Allein durfte eine Frau zu dieser Zeit auf keinen Fall verreisen, also musste notgedrungen die kleine Schwester mit. So auch nach Berlin. Einmal auf den Geschmack gekommen, erkundeten die Schwestern gemeinsam die große, schöne Welt Deutschlands. Wobei Claire wie immer selbstverständlich die Führung übernahm.

Johanna war eigenes Denken völlig fremd. Fast sklavisch befolgte sie die Anweisungen ihrer Schwester. Auch musste Johanna, Claires Handtäschchen für diese gut sichtbar, während der Fahrt auf ihrem Schoss platzieren. Und wehe, Johanna stellte es in den Fußraum. Der gestrenge Blick, der spitze Mund mit den geschürzten Lippen reichte aus, um sofort wieder das Brokattäschchen mit den Rosen sichtbar zu machen. Claires Fahrstil war nicht unbedingt gut zu nennen. Sie raste in einem Affenzahn durch die Gegend. Oft war Johanna Angst und Bang zumute. Mehr als nur einmal befürchtete sie, dass die letzte Mahlzeit schwungvoll auf dem Armaturenbrett landete.

Beim Bruder konnte sich Claire nicht immer so durchsetzen, wie sie es gerne hätte. Jedoch schaffte sie es stets, ihren Vorteil zu suchen und natürlich auch zu finden. Ein Ziel war, dass sie und Johanna mit ihrem Bruder ihr Leben lang den Hof bewirtschaften würden. Dies konnte nur funktionieren, wenn ihr Bruder keine Frau mit nach Hause bringen würde. Hinterlistig wusste Claire, dies zu verhindern. Briefe verschwanden heimlich. Heiratsfähige Frauen wurden grundsätzlich schlecht gemacht, fadenscheinige Gründe vermiesten jegliche mögliche Beziehung. »…kein Geld, zu wenig Geld, zu städtisch, zu dick oder zu dünn oder, die passen nicht auf den Hof« Claire fand immer wieder einen Weg, eine ernsthafte Beziehung zu verhindern. Freundinnen von Johanna wurden erbarmungslos niedergemacht, wenn sie es wagten, Gustav schöne Augen zu machen.

Im ganzen Dorf schaute man auf das Dreiergespann, oft wurde hinter vorgehaltener Hand gelästert. Gustav war immerhin nach außen der Herr im Haus. Doch alle wussten, ohne Claire wurde nichts gemacht. Sie allein bestimmte, was, wann, wo und warum zu tun war. Im Dorf nannte man sie Tant Claire (der Rheinländer verschluckt oft das e).

So erinnerte sich der Postbote daran, wie sie einmal die Annahme eines Briefes verweigerte. Auf dem Umschlag war die Adresse vermerkt: Frau Claire … Sie machte dem armen Postboten äußerst energisch klar, dass sie das nicht sei, und bestand auf der korrekten Anrede »Fräulein«. Der Postbote suchte schleunigst das Weite, nachdem er den Brief tatsächlich als unzustellbar wieder mitnehmen musste. Hätte er es gewagt, den einfach unter das Tor zu schieben. Oh je, die Konsequenzen wären fürchterlich gewesen.

Natürlich war Tant Claire wieder Dorfgespräch Nummer Eins. Laut lamentierend und an alle gewandt, machte Tant Clair jedem im Dorf klar, dass sie ein „Fräulein“ geblieben war und als solche ehrenwerte Person auch angeredet werden wolle. Sie ging sogar so weit, dass sie ihren Hausarzt wechselte, als dieser sie mit „Frau“ ansprach und auf ihre Belehrungen nicht reagierte.

Im Laufe der Zeit hatten die beiden „Juffern“ (für den Nichtrheinländer: Jungfrauen) ihren eigenen festen Lebensstil. Sie waren fromm, übten sich in der Nächstenliebe, wobei bei Tant Clair andere Maßstäbe galten als allgemein angenommen. Johanna, die bescheidene, zurückhaltende, treusorgende Hausfrau war mit ihrem Leben zufrieden. Die Geschwister der beiden kamen regelmäßig zu Besuch und brachten dann wiederum ihre Kinder mit. Nichten und Neffen waren gern gesehene Gäste und wurden auf das Beste von Johanna bewirtet. Als dann auch noch die Großnichten und Großneffen alt genug waren, um die drei Geschwister zu besuchen, herrschte reges Treiben auf dem Hof.

Allerdings gab es schon einige Eigenarten, die den jungen Menschen nicht verborgen blieben. Obwohl die Geschwister schon seit Ende der 1960 Jahre einen Fernseher besaßen, wurde kaum ferngesehen. Es gab feste Rituale, 20 Uhr die Nachrichten, danach Kasten aus. Nach den Nachrichten wurde heftigst über das politische Geschehen, über das gerade berichtet worden war, disputiert. Auch hier vertrat Tant Claire wie auch in allen übrigen Lebensbereichen ihre unumstößliche Meinung. Widerspruch war nicht erwünscht! Lediglich Gustav durfte ab und zu widersprechen – um den Hausfrieden zu wahren.

Sonntags war auch der Besuchertag, allerdings wurden die Besucher auf das Genaueste betrachtet. Man durfte sich nicht einfach so auf einen Sessel setzen. Weit gefehlt! Tant Clair residierte in ihrem Sessel, natürlich chic und dem sonntäglichen Anlass angezogen. Sie achtete peinlichst auf ihre Kleidung. Die Besucher konnten den eigenen Rang oder Stellenwert erkennen, indem sie auf die Kleidung von Tant Claire achteten. Trug sie Goldschmuck, war man schon jemand, trug sie ihre Perlen, war man schon etwas mehr. Rigoros unterzog sie jeden Besucher einer peinlichen Befragung und Begutachtung.

Johanna war immer für das leibliche Wohl verantwortlich. Sie war eine echte Künstlerin in der Küche. Es mag etwas seltsam anmuten, die Delikatesse des Hauses war selbst gemachte Bratwurst. So eine Bratwurst gab es nirgends zu kaufen. Einmal im Jahr kam der Metzger, um eins der hauseigenen Schweine zu schlachten. Kopfschüttelnd musste er mit ansehen, wie die besten Fleischstücke, die er selbst für gutes Geld als Schnitzel, Braten oder sonstige Delikatessen verwenden würde, erbarmungslos in der Maschine zerkleinert und zu einem zähen Brei verarbeitet wurden. Selbst das wertvolle Filet landete in der Bratwurst. Warum auch immer… Zähne zum Kauen hatten alle drei.

Eigenarten gab es in dieser Dreier-WG so einige. Zum Beispiel wurde der Kartoffelsalat eine Stunde vor dem Servieren auf der Herdplatte aufgewärmt. Schier unvorstellbar, doch – Tant Claire hatte es befohlen und ein Widerspruch war nicht akzeptabel!

Dann kam der Tag, als sich Gustav auf den Weg zu seinen Ahnen machte, still und leise war er gegangen. Jetzt waren es nur noch zwei. Noch am offenen Grab sah Claire Johanna tief in die Augen und sagte mit einem herrischen Tonfall, dass sie auf dem Hof bleiben würden – KOMME WAS WOLLE! Claire wusste, dass die Zukunft des Hofs an einem seidenen Faden hing. Es war die Zeit, als Garzweiler 2 erweitert werden sollte. Claire war auf sich allein gestellt, ein einsamer Kampf – David gegen Goliat. Doch dann starb Claire, noch bevor sie ihre Pläne in die Tat umsetzen konnte. Claire ging in einer Neumondnacht. Still und unbemerkt.

Johanna blieb einsam und hilflos zurück, sie drohte zu verwahrlosen. Bis Gerta, eine Nichte bei ihr einzog und man zusehen konnte, wie Johanna aufblühte. Erst jetzt konnte sie das Leben frei genießen.

Doch ein Ritual blieb, denn nun schlich Johanna in jeder Neumondnacht auf Zehenspitzen die knarrende Treppe herunter. Mit einem Gläschen Herzmittel in der Hand saß sie nun auf dem Stuhl und wartete auf eine Botschaft aus dem Jenseits. Wie vorher schon Claire, hörte jetzt Johana unregelmäßiges Ticken, Rauschen und ein meist undefinierbares Gesäusel. Ab und an allerdings meinte sie Claires Stimme zu vernehmen und war froh, wenn die Stimme freundlich klang.

Claire schien immer wieder zurückzukehren, um Johannas Leben über ihren Tod hinaus zu leiten. Zu ihren Lebzeiten lauschte Claire ihren Ahnen. Nun lauscht man ihr.

Der Hof ist noch heute im Familienbesitz.

Wie es weitergeht: Tant Clair hat Kenntnis von allen Dingen, die in dem kleinen Ort geschehen. Sie schmiedet Pläne, um den Nachfahren den Familienbesitz zu erhalten. Und Johanna erzählt ihrer Nichte noch so manche Anekdote über ihr Leben mit der herrischen Schwester. Selbst heute noch, Generationen später, bleibt eine Geschichte unvergessen. Sie wird auf allen Familienfesten immer wieder erzählt. Und zwar, wie Tant Clair ihrem Bruder Gustav zu einem blauen Auge verholfen hat.

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Kommentare

David 08.09.2021: Wann geht es mit der Dorfgeschichte weiter?